Florian, 11 Jahre, ist ein seltenes Exemplar seiner Gattung. Am liebsten geht er in den Wald nahe seiner Wohnung am Münchner Stadtrand, bastelt und spielt hier, gerne auch allein. Er gerät damit allerdings in Konflikt mit seinen Eltern, die meinen, dass das halbe Wochenende eigentlich gelernt werden müsste – er besucht die 6. Klasse am Gymnasium. Auf mich macht er meist einen entspannten und ausgeglichenen Eindruck.
Florian scheint noch eine Bindung zu seiner natürlichen Umgebung zu haben, die für die meisten seiner Artgenossen sonst kaum mehr eine Rolle zu spielen scheint. Natur, oder das, was davon noch übrig ist, ist eher ein Konsumprodukt, zu besuchen im Urlaub am Meer oder am Wochenende in den Bergen. „Natürlich“ fahren wir mit dem Auto dorthin, das wir sonst im Alltag vor allem für kurze Strecken verwenden. Es steht bereit zum Brötchen holen oder um die Kleinen zu ihren vielen Schul- und Freizeitterminen zu bringen, anstatt zu Fuß zu gehen oder mit dem Rad zu fahren. Dazu müsste ihnen und vor allem den Eltern aber bewusst sein, wie wohltuend dies sein kann. Erst diese Erfahrung lässt auch Engagement für die natürliche Umgebung entstehen, wie Untersuchungen zeigen.
Stattdessen suchen Erwachsene jetzt schon drei Stunden täglich mittels Smartphone ihre Ersatzwelt auf. Auch hier sind sie Vorbild, jetzt werden schon Grundschulkinder regelmäßig damit ausgestattet. Die Bindung zu diesem Gerät scheint stärker als zur Natur, wo auch der Nachwuchs inzwischen kaum noch Zeit verbringt. Noch 1990 gaben in einer deutschen Studie fast drei Viertel der befragten Kinder zwischen sechs und 13 Jahren an, sich täglich im Freien herumzutreiben – 2003 waren es schon weniger als die Hälfte. Kinder in benachteiligten Wohngebieten machen dies zudem deutlich weniger als die in kinderfreundlichen Stadtteilen, wie kürzlich eine Studie des Deutschen Kinderhilfswerks herausfand.
Angst der Eltern vor Entführungen sowie vor Stürzen und Verkehrsunfällen spielt dabei eine große Rolle. Was dazu führt, dass immer weniger Kinder auf Bäume klettern können und häufiger motorische Probleme haben. Freiheit, Selbstwirksamkeit, unmittelbare Erfahrungen mit den Naturelementen und ein Gefühl der Verbundenheit auch mit Pflanzen und Tieren sind jedoch draußen eher zu erleben als im beschützten und mediendominierten Innenraum. Auch Konzentrations- und Gedächtnisleistungen werden durch das Spiel in der Natur gefördert – was leider bisher noch wenig Eingang in Bildungspolitik und Lehrpläne gefunden hat.
Vor allem aber schwindet durch diesen frühen Bindungsverlust die Chance, draußen Momente der Ruhe zu finden, was eine wichtige Erfahrung für später wäre. Der grüne Unternehmer Michael Otto bemerkte in einem Interview: „Nur was man liebt, das schützt man. Ich war immer viel in der Natur. Als 16-jähriger habe ich meine erste große Radtour nach Schweden und Norwegen unternommen, durch riesige Wälder und Seengebiete. Bis heute finde ich in der Natur zu mir selbst.“
Was nicht geschätzt und geschützt wird, wird umso eher zerstört. Eine Fläche von 25 Fußballfeldern wird in Bayern täglich verbaut, sei es für Wohnraumverdichtung in den wachsenden Städten oder Gewerbegebiete und Umgehungsstraßen am Land. Während zudem global die Umweltzerstörung mit Artensterben, Klimawandel und Rohstoffausbeutung ungebremst weitergeht – und sich auch hier die Bindungsstörung zeigt in der Prioritätensetzung von Wachstum vor Umweltschutz. In dieser erdgeschichtlichen Epoche, bald wohl angesichts der menschlichen Dominanz als Anthropozän zu bezeichnen, ist nahezu alles dem ökonomischen Diktat unterworfen.
Die Wirtschaft muss laufen. Keine Zeit für Natur. Wir arbeiten, und in der verbleibenden knappen Zeit spielen wir am Smartphone und planen den nächsten Skiurlaub oder die Flugreise für den Sommer. All dies geschieht auch aus dem urmenschlichen Bedürfnis heraus, dazu gehören zu wollen und dadurch das Selbstbewusstsein zu stärken. Man möchte gerne im Familien-, Freundes- und Kollegenkreis mitreden können, wenn es um aktuelle Trends oder das neue Automodell geht. Vielen Menschen jedoch fehlen Geld und vor allem Zeit, um hier mithalten zu können. Der Ruf nach Entschleunigung ist daher groß, es wird schon von einem Burn-out gesprochen, der nicht nur durch Arbeitsüberlastung entsteht, sondern auch durch Freizeit- und Konsumstress. Ein deutscher Haushalt besitzt heute 10.000 Produkte, die verwendet und aufbewahrt werden wollen.
Der verloren gegangene Bezug zur Natur betrifft somit Familie, Gesellschaft, Bildung und Politik. Diese Bindungsstörung ähnelt der zu den Eltern, die in Therapien thematisiert wird. Spätere Konflikte und seelische Probleme entstehen häufig daraus, gelassen und selbstbewusst zu werden ist erschwert. Dies fällt umso mehr ins Gewicht, wenn zudem in Kindheit und Jugend keine Zufluchtsorte in Wald und Flur gefunden werden konnten. Was wiederum die Umgebung nicht als schützenswert ins Bewusstsein rückt. Weniger Grün vor Ort jedoch erhöht die Anfälligkeit für Angst und Depression, wie Studien insbesondere für die Stadtbevölkerung zeigen.
Was also ist zu tun? Es geht nicht um ein nostalgisches „Zurück zur Natur“. Ich denke an eine 40-jährige depressive Zahnarzthelferin, die sich mit Hilfe von Garten und Haustieren immer wieder gut regenerieren kann, aber sehr leidet bei jedem neuen Bericht zur globalen Umweltzerstörung; an einen 52-jährigen Paketfahrer, der sich in der Stadt an selbst gezogenem Gemüse erfreut und mir in der Sprechstunde mit leuchtenden Augen Bilder von Fröschen an seinem kleinem Teich zeigt. Und ich denke an den 49-jährigen Psychiater, Autor dieser Zeilen, der auf Bergtouren einen freien Kopf bekommt, was dann plötzlich zu Einfällen und Erkenntnissen führt, die wie in einem solchen Artikel dann rasch zu Papier gebracht werden wollen.
Insgeheim wünsche ich Florian weiter viel Durchsetzungskraft für seinen Naturbezug. Anderen ist dies erst wieder näher zu bringen, über die klassische Psychotherapie hinaus wäre das doch eine Aufgabe für Therapeuten! Vereinzelt finden Aspekte einer „Ökotherapie“ bereits Eingang in Forschung und Praxis. Sie wird in etlichen psychiatrischen Kliniken und Altersheimen mit Tieren und Gartentherapie angewandt. Beziehungen heilen heißt auch, empathisch auf den anderen zu hören. Die Sprache der Natur verstehen wir aber offenbar schlecht, vielleicht gehen wir auch deshalb so destruktiv mit ihr um. Allein schon der Rat, sich an früher erlebte Ruheplätze in der Natur zu erinnern, und auch heute draußen den vielfältigen Stimmen zu lauschen, kann einem selbst und dann auch der Umwelt vielleicht mehr helfen als nur der wiederholte frustrane Appell an Gesellschaft und Politik, endlich bei Umwelt- und Klimaschutz effektive Maßnahmen zu treffen.
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Ein schöner Artikel!
viele Grüße aus Berlin.